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Rubrik:

Nix(e) im Netz

Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und mache ein soziales Praktikum. Vor den Besuchen in Seniorenheimen und Krankenhäusern graut es mir. Heute kommt der Härtetest, die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie … Mein blaues Sommerkleid klebt durch die Angst fest an meiner Haut, liegt an wie eine Zwangsjacke …

Wenn ich morgens aufwache, brauche ich lange, bis ich weiß, wo ich bin und wer ich bin und warum ich hier bin. Ich, Inni, bin allein, allein, allein; liege ganz still in meinem Käfig. Wenn ich das alles begriffen habe, atme tief ein und halte die Luft so lange wie möglich an. Beim Ausatmen versuche ich, die Schultern nicht wieder sinken zu lassen, die Arme rechts und links an den Körper zu pressen und jede Berührung zu vermeiden mit dem Netz, in dem ich gefangen bin …

Ich werde immer kleiner, sehe mich durchs umgekehrte Fernglas immer entfernter, ich bin ganz klein und muss lachen, denn ich bin plötzlich ein Kind. Ich springe einen Weg entlang, Steinchenweg, Sandweg, ich bin der Oma davongelaufen, die ist weit hinten …

Manchmal frage ich mich, was die Patienten von uns denken. Früher habe ich mir nie Gedanken gemacht, da war es in Ordnung diese Arbeit zu machen. Die Leute haben sich bedankt wenn sie heim gingen und uns Pralinen geschenkt und Kaffee und haben gelächelt. Niemand von uns hat gezweifelt, der Dank hat uns bestätigt …

Jetzt wo ich den Kopf ein wenig frei habe sehe ich die beiden anderen Frauen im Zimmer, beide in meinem Alter. Beide liegen ganz still und sind scheinbar nicht da. Die eine liegt … in einem normalen Krankenhausbett. Die andere, o Gott! Wieso habe ich das vorhin nicht gesehen? Die andere also, die ist ganz nackt …

Die alte Frau hat Besuch, das gab es noch nie. Sie sitzt aufrecht, Manuela steht hinter ihr und stopf ihr ein Kissen in den Rücken und eine Frau in meinem Alter sitzt auf einem Stuhl, den ich noch nie hier gesehen habe. Sie ist heiser und kann fast nicht reden. Ich sehe durch einen winzigen Spalt im Augenlid die struppigen grauen Haare der Nachbarin und ihr blasses, faltiges Gesicht. Schönheiten nehmen die hier nicht. Sie hätten ihr die Haare wenigstens waschen können.

Die blaue Besucherin hat Angst, ich rieche Angst. Menschen wissen nicht, dass man Angst riechen kann, wenn man selbst schon genug Angst gehabt hat …

Manuela redete mit mir während die drüben noch sprachen. Vielleicht wollte sie etwas hören, vielleicht nur einen Eindruck auf die Besucherin machen. Ich spürte ihre Hand auf meiner nackten Schulter. Es war eine kühle, friedliche Hand, nicht wie die gewalttätige Hand meiner Mutter …

In: Rademacher, Guido           

Milow, Strasburg und Berlin 2011        Schibri-Verlag

ISBN 978-3-86863-062-6