Zeitungsbild in schlechter Qualität: Jemand liest einer Gruppe vor

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Hoffnung im Mai 1990

Ich hoffe, dass ich das noch schaffe. Liegt es jetzt nur noch an mir oder noch immer an der Gesellschaft? Ich möchte frei werden von jenem kleinen Zögern, mit dem ich heute politische Äußerungen in Briefe aufnehme. Ich hoffe, mich nie wieder am Telefon sagen zu hören: „Das erzähle ich dir, wenn du mich besuchst.“ Wann verlerne ich endlich den Ton zu dämpfen bei kritischen Themen?

Inzwischen weiß ich es genau: In unserer Wohnung gab es keine „Wanzen“. Niemand hörte uns zu. Wir aber lebten, als hörte uns jemand zu. Wir schrieben die Briefe für die Stasi statt für unsere Freunde. Dabei erlebten wir: Nun kamen sie an, die früher nie den Adressaten fanden. Hoffentlich dachten wir nicht schon, als läse jemand die Gedanken. Ich bin mir nicht sicher.

Wie soll ich diese Angst-Haut abstreifen? Ich hoffe, dass solche Hemmungen nur eine Haut sind, nicht schon Mark, Herz, Leber erreicht haben. Denn wie sollte ich diese reinigen? Ich will hoffen, dass es nur eine Gänsehaut ist, die sich von selbst glättet, wenn mir wärmer wird.

In: Forum Loccum

Eigenverlag Ev. Akademie Loccum 1990

Hoffnung im Mai 2002

Ich hoffe, dass ich wieder einmal eine Gänsehaut schaffe. Ich will hoffen, dass es nur ein Südwind war, der sie mit kurz glattgestrichen hat. Die private Angst-Haut damals erwies sich als Gänsehaut, die sich glättete, als mir im Lande wärmer wurde. Längst bin ich frei vom Zögern, wenn ich politische Meinungen äußere. Es gibt keine Themen, bei denen es lohnen würde, den Ton zu dämpfen. Niemand hört uns zu.

Viele leben, als höre ihnen jemand zu. Sie reden und denken, als könnten sie Wichtiges sagen, dem jemand lauscht. Viele träumen, jemand läse ihre Gedanken und lobte sie für die besten – die schäbigen, kleinen galant übersehend. Doch die Welt konsumiert den schönen Schein ebenso wie das Leid der Anderen. Viele fühlen sich gut, wenn sie einmal zugehört haben ohne Selbstdarstellung, wenn es ihnen gelang, dem Augenschein zu misstrauen und die Wirklichkeit auszuhalten. Wir alle schämten uns nicht der hautglättenden Wärme, dass wieder nicht uns getroffen hat, was die Nachrichten zeigen.

Jetzt liegt es an mir: die Wirklichkeit auszuhalten. Das Leid der Anderen zu ertragen, statt es zu vergessen. Mich wieder zu fürchten vor den glatten Gesichtern und eine Gänsehaut zu bekommen, die kein Föhnwind glätten kann.